Gesundheit

Die ewige Frage: Halsband oder Geschirr?

Banale Fragestellung? Mitnichten! Das Problem spaltet buchstäblich die Hundewelt, wie sich in den einschlägigen Diskussionsforen schnell feststellen lässt. Für die Befürworter des Geschirrs scheint ein am Halsband geführter Hund oft ein Opfer von anzeigepflichtiger Tierquälerei zu sein, während die Mehrheit der Halsbandnutzer die Geschirrfraktion für durchgedrehte Tierschutz-Taliban hält. Die Diskussionen zwischen den beiden Lagern werden in der Regel mit höchster Emotionalität geführt.

Die Pro- und Contra-Argumente konzentrieren sich allgemein auf zwei Aspekte, nämlich den gesundheitlichen und den verhaltenskundlichen. Wir wollen uns bei unserer Erörterung auf die gesundheitlichen Gesichtspunkte beschränken, weil wir davon etwas verstehen. Für die verhaltenskundlichen Behauptungen der Geschirr-Befürworter gibt es nach wie vor keinerlei tragfähige wissenschaftliche Beweise. Dementsprechend halten wir uns da einfach raus.
Sowohl Halsband als auch Geschirr bieten die Möglichkeit, eine Leine am Hund zu befestigen und dadurch Kontrolle und Führung auszuüben. Das ist unverzichtbar, schon allein wegen der vielerorts geltenden Leinenpflicht. Wird ein Hund an der Leine geführt, können auf seinen Körper Kräfte einwirken, die entweder vom Besitzer (Leinenzug, Ruck) oder vom Hund selbst (Ziehen, Vorprellen) verursacht werden. Jeder Hundebesitzer wird bestätigen können, dass diese Kräfte unter bestimmten Umständen durchaus nicht unerheblich sind.
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Bei einem Halsband wirken diese Kräfte auf einen nur wenige Quadratzentimeter umfassenden Bereich des Halses, an dem sich wichtige Organe wie die Schilddrüse, der Kehlkopf, die Luftröhre und die großen Halsgefäße befinden. Die leider so häufige Schilddrüsenunterfunktion entsteht sehr gern aus einer über lange Zeiträume unbemerkt bleibenden Entzündung dieses Organs (Thyreoiditis). Die auslösenden Faktoren liegen nach wie vor weitgehend im Dunkeln. In diesem Kontext kann man sich um ständigen Druck oder häufige ruckartige Krafteinwirkung auf genau diese Halsregion durchaus seine Gedanken machen. Ebenso betroffen von starken Kraftimpulsen ist die gegen seitliche Beschleunigungen chronisch empfindliche Halswirbelsäule. Bei einem Geschirr dagegen verteilt sich der Druck auf eine um ein Mehrfaches größere Fläche, der Hals wird je nach Ausführung des Geschirrs deutlich entlastet. Von den Geschirr-Befürwortern werden zwar manchmal gesundheitliche Gefahren eines Halsbandes heraufbeschworen, die man als Tierarzt nicht wirklich nachvollziehen kann, es gibt da aber gar keine Frage: Auf den Hund über die Leine einwirkende Kräfte werden durch ein Geschirr definitiv günstiger verteilt. Dazu kommt: Ständiger Zug oder ständiges Gerucke an einem Halsband ist mindestens hochgradig lästig, tut aber sicher auch in vielen Fällen einfach weh! Davon kann man sich leicht selbst überzeugen, indem man sich einfach mal an die Leine nehmen lässt.Sowohl unter gesundheitlichen als auch tierschützerischen Gesichtspunkten sind Stachelhalsbänder natürlich absolut indiskutabel. Aber auch die extrem dünnen, sogenannten Erziehungsleinen, die direkt hinter der Schädelbasis um den Hals des Hundes gelegt werden, machen mir medizinisch überhaupt keine Freude. Sie mögen ja in der einen oder anderen Trainingsphilosophie, die wir an dieser Stelle nicht diskutieren wollen, eine wichtige Rolle spielen, aber hier werden die auf den Hals einwirkenden Kräfte auf eine absolute Minimalfläche konzentriert und entsprechend verstärkt. Das bedeutet, dass jeder Einwand, den man gegen Halsbänder ins Feld führen kann, bei einer solchen Erziehungsleine mindestens um den Faktor Zehn bedeutsamer wird. Dies nicht zuletzt deshalb, weil wir im täglichen Leben beobachten können, dass gerade Hunde, die viel und heftig ziehen, öfter solche Leinen tragen. Ich rechne fast damit, über kurz oder lang mal mit einer Zungenbeinfraktur konfrontiert zu werden, die von so einem Ding verursacht worden ist.Gibt es gesundheitliche Argumente auch gegen das Geschirr? Leider ja! 2006 wurde die „Jenaer Studie zur Hundefortbewegung“ veröffentlicht, die die Sicht auf die Fortbewegungsaktionen der Vordergliedmaße gründlich revolutioniert hat. So spielen offenbar Bewegungen des Schulterblatts eine wesentlich größere Rolle als bisher angenommen. Kurioserweise wird die Studie inzwischen von einzelnen Geschirr-Befürwortern als Beleg für ihre Auffassung herangezogen. Dies ist nur damit erklärbar, dass sie die Studie gar nicht gelesen haben, denn dafür taugt sie in keinster Weise. Ganz im Gegenteil ergibt sich aus den Studienergebnissen bezüglich der hochgradigen Wichtigkeit der Schulterblattaktionen für uns Hundebesitzer die Verpflichtung, ein Geschirr sorgfältig darauf zu prüfen, ob damit eine freie und unbehinderte Bewegung der Vordergliedmaße einschließlich des Schulterblatts möglich ist. Nach unserer Erfahrung in der Praxis ist diese Forderung häufig nicht erfüllt.

Viele Gurtgeschirre umfassen den Brustkorb viel zu nah am Vorderbein (also in der Achsel) oder sitzen insgesamt so schlecht, dass sie in ständiger Schieflage um den Hundekörper herumschlottern. Aber sogar die auch von uns vormals als gut passend eingeschätzten Geschirre vom Julius-K9-Typ müssen kritisch gesehen werden, denn sie bedecken große Bereiche des Schulterblatts und behindern damit die freie Bewegung. Aus medizinischer Sicht sicher problematischer sind aber schlecht konstruierte oder angepasste Gurtgeschirre. Das ständige Scheuern des Geschirrs in der Achsel bringt den Hund dazu, seine Ellbogen nach außen zu rotieren. Ein korrekter Bewegungsablauf ist damit nicht mehr möglich.

Es werden sicher weitere Untersuchungen mit den in der Jenaer Studie erstmals zur Anwendung gekommenen Methoden notwendig sein, um feststellen zu können, wie deutlich solche Bewegungseinschränkungen durch Geschirre zum Tragen kommen. Auch gesundheitliche Langzeitfolgen sollten eigentlich untersucht werden, wobei ein diesbezüglicher wissenschaftlicher Studienansatz schwer vorstellbar ist. Wer lässt sich schon darauf ein, dass sein Hund in einer über Jahre reichenden Studie ein schlecht sitzendes Geschirr trägt und damit eventuellen Schäden am Bewegungsapparat ausgesetzt wird? Auch in Bezug auf das Geschirr empfehlen wir dem Ungläubigen den Selbstversuch: Man schultere an einem warmen Sommertag einen möglichst schlecht sitzenden Rucksack auf den nackten Oberkörper und gehe zehn Kilometer joggen oder wandern. Wer danach keine Wundsalbe braucht, hat ein echt dickes Fell. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch Bilder von Schlittenhunderennen: Man sieht sehr schön, wie die Zuggeschirre den Schulterbereich perfekt aussparen, um die freie Beweglichkeit der Vorderbeine nicht zu behindern.

Nun, was können wir für ein Fazit ziehen? Wie so häufig, bringt uns die undogmatische Anwendung gesunden Menschenverstandes schon ein gutes Stück weiter. Ein Halsband an sich ist nichts Böses oder Schlechtes, nur sollten keine starken oder lang anhaltenden Kräfte darauf einwirken. Ist Ihr Hund ein chronischer ‚Zieher‘, dann ist er mit einem Geschirr gesundheitlich besser dran. ‚Zieher‘ leiden durch den Dauerdruck des Halsbands fast immer an einer chronischen Entzündung von Kehlkopf und oberer Luftröhre. Auch ein Hund, der in der Umgebung starker Verlockungen schwer zu kontrollieren ist und bei jeder Gelegenheit mit viel Kraft vorprellt, sollte besser ein Geschirr tragen, um Verletzungen des Halses durch starke Kraftimpulse zu vermeiden. Aber: Ein Geschirr verlangt dem Hundebesitzer mehr Verantwortung ab. Es muss einwandfrei gefertigt und perfekt angepasst sein. Dies ist besonders wichtig, da ein Geschirr im Gegensatz zum Halsband auch beim Freilauf behindernd oder störend wirken kann.

Ein wichtiges Ziel der Erziehung ist natürlich, dass ein Hund sauber und ohne zu ziehen an der lockeren Leine laufen kann. Wenn Sie das erreicht haben, ist ein Geschirr in der Regel unnötig. Ein Halsband ist für den Hund allemal weniger lästig als ein Geschirr. Bei einem gut erzogenen Hund kann das Halsband so locker sein, dass man es sogar über den Kopf abstreifen und damit dem Hund einen gänzlich unbeschwerten Freilauf ermöglichen kann.

Alles in allem kann man also mal wieder feststellen: Es kommt darauf an! Ein Hund sollte unserer Meinung nach sowohl ein Geschirr als auch ein Halsband haben und auch an beides gewöhnt sein. Der Einsatz erfolgt situationsabhängig. Unser Nogger hat zum Beispiel bei Bergwanderungen meistens sein Geschirr an, weil damit Sicherung und Unterstützung in schwierigem Gelände besser zu gewährleisten sind. Auch beim Besuch einer Hundeausstellung würde ich das Geschirr vorziehen, weil ich weiß, dass mein Hund wahrscheinlich öfter an der Leine ziehen wird. Mache ich dagegen einen Spaziergang im Wald, dann habe ich Halsband und Leine in der Jackentasche und streife das Halsband nur kurz über, wenn es aus irgendwelchen Gründen notwendig werden sollte. Bei einem sauber an der lockeren Leine laufenden Hund gibt es noch nicht mal ein medizinisches Argument gegen die sogenannten Moxon- oder Retrieverleinen.

Aus unserer Sicht gibt es noch einen weiteren guten Grund, einen Hund sowohl an Halsband als auch Geschirr zu gewöhnen: Wir erleben nicht selten, dass eine Halsverletzung die Verwendung eines Halsbandes oder eine Brust-/Rücken-/Schulterverletzung die Verwendung eines Geschirrs für gewisse Zeiträume unmöglich macht. Glück für den Hund, den weder das eine noch das andere stört.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert, Tierarzt
www.tierarzt-rueckert.de
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